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Zweiklassenmedizin


Leudde, ich muss jetzt hier etwas loswerden und ein Feedback ist sehr extrem ausdrücklich gernstens erwünscht. Im Moment fährt meine Gesundheit Rollercoaster mit mir. Bei keinem dieser Dinge bin ich mir einer persönlichen Schuld bewusst aber das Schicksal hat halt auch noch ein Wörtchen mitzureden. Dies soll kein Tränendrüsendücker werden und ich brauch auch keine Bemitleider, das eher so als kleine Einleitung. Der Prolog sozusagen.

                   ***

Ich ruf also heut nachmittag meine Arztpraxis an, die Medix Gruppenpraxis an der Rotbuchstrasse 46 in Zürich, mit der ich einigermassen zufrieden war in den letzten Jahren. Zufällig auch eine HMO-Praxis. Glaub ich. Hat mich wenig gestört, das garantiert auch ein wenig, dass sie effizient arbeiten. So weit so gut.

Nun. Ich ruf also an, die Sprechhilfe oder wie auch immer man dem auf Neudeutsch-Slang heute nennt nimmt ab. Ich erkläre ihr: ich habe drei Probleme:

1. Muttermale, die abnormal wachsen in den letzten Monaten. Eins ist über ein cm gross. Eins ganz neu. Ich möchte das gerne zeigen.
2. Ich schnarche seit ca. zwei Jahren. Doch in letzter Zeit gibt es Hinweise, dass ich Atemaussetzer habe. Möcht' ich auch gerne zeigen.
3. Ausserdem: Letzte Woche teilt mein Vater uns, meiner Schwester und mir, mit, dass er Untersuchungen gemacht hat und in unserer Familie wahrscheinlich ein Zuckerkrankheit-Gen sein könnte. Grundsätzlich halb so wild, aber ich nehme seit ungefähr sechs Monaten massiv zu und - äh - vielleicht sollten wir das auch mal ansehen, denn ich tendiere grundsätzlich seit vierzig Jahren eher zur Bohnenstange.

Sie weist mich darauf hin, dass sie sehr ausgebucht sind. Wenn ich mich erinnere die Dermatologie bis August.

Ok.

Mmmh.

Und jetzt?

Ja, bei welchen von ihren Ärzten ich denn so gewesen seie? Ich so: Zepter, Rapp, wer auch immer, es wechselt bei denen so im Jahresrhythmus oder so…

Sie so: ja eben, ob ich einen Allgemeinarzt bei Ihnen habe. Ich glaub das hab ich, kann mich vor Medix-Namen aber nicht mehr klar erinnern (jetzt fällt's mir natürlich soeben ein, die Seidel, aber eben, etwas zu spät). Sie hat aber inzwischen mein File gefunden, sollte sie das nicht einsehen können? Oder fällt das unter den Sekretärinnen-Patienten-Datenschutz?

Sie so: ja eben, sie seien sehr ausgebucht, aber ich könne das alles auch einem Allgemeinarzt zeigen, der könne mich auch überweisen.

Jetzt werde ich etwas nervös. Denn ich tick so: um unser Gesundheitssystem nicht zu belasten, versuche ich erst zum Arzt zu gehen, wenn ich denke es ist nötig und nicht wenn ich beim Pfeffermahlen zwei mal gehustet habe wie das andere, die ich kenne, tun.

Ich weise sie also darauf hin, dass alle meine drei Anliegen im worst case zu meinem Tod führen könnten und ich deshalb wirklich sehr sehr gerne das zeigen würde und ich mir deshalb nicht gerne zum x-ten mal anhöre, dass sie ausgebucht sind. Ich bin herrgottverdammt noch mal kein HMO Patient.

Aaaah, (grosses Staunen auf der anderen Seite hab ich das Gefühl), sie sind kein HMO Patient???

Nein, bin ich nicht.

Und bitte, wie stellt sich das unsere Gesellschaft vor??

"Hallo, ich bin am sterben und sähe gerne einen Arzt" "Sie sind HMO Patient? Ja warten sie mal, tut mir Leid, wir sind bis August ausgebucht"

Ich hab dann einen Termin bei einem Allgemeinarzt bekommen. Herrn Christmann, diesen Montag um 8.30h. Nüchtern antreten.

Jetzt meine grosse ernüchternde Frage an euch. Und nicht nur an meine Freunde, sondern ganz EXPLIZIT auch an die Ärzte, die Spitaldirektoren, die Mongoloiden, die Narkoleptiker und die Arztpraxissekretärinnen: In was für einer Welt wollten wir leben? Du. Und ich. Hä? Wenn jemand ohne direkt Schuld an seinem Zustand zu sein in einen Unfall oder eine Krankheit verwickelt wird, wollen wir in diesem Fall einen Sozialstaat oder nicht? Klar, dass diese Frage Abzockern egal ist, denn für Geld kann man sich vieles kaufen. Aber Gesundheit lässt sich nicht immer um jeden Preis kaufen. Auch ein Herr Blocher kann morgen an einer genetischen Krankheit erkranken, für die er nicht selber Schuld ist ausser dass er geboren wurde. Wollen wir ein System, dass eine Zweiklassenmedizin ist wie wir es heute haben?





Neulich: Anonym, Gesundheits-Industrie-Angestellte erzählt mir, dass der Herr Kollege Arzt Abzocker seit einiger Zeit nur noch Privatpatienten operiert weil er mehr verdienen will. Deshalb stehe nur noch sein jüngerer Kollege zur Verfügung.

Keine erfundene Geschichte, hab ich so erlebt und kann alle Namen im Klartext nennen.

Die Geschichte geht euch zu wenig weit? Ihr wollt mehr? Hier Beispiel zwei: Anonymzwei, Arzt/Ärztin, und dazu nota bene noch jemand, von dem ich sehr viel halte, erzählt Folgendes: (aus meiner Erinnerung erzählt, vor ein oder zwei Jahren gehört und ey, mein Gedächtnis funktioniert noch ziemlich gut ;). Erzählt während eines Praxisbesuchs also von einer Studie, die aktuell mit Kollegen durchgeführt wird. Es geht um genetische Veranlagungen. Teilnehmer sind freiwillig. Clue ist: es hat da einen Teilnehmer, der so weit ich mich erinnere in der Öffentlichkeit nicht einmal unbekannt ist, bei dem man klar sehen kann, dass in seiner Zukunft eine genetische Krankheit ausbrechen wird. Ich hake ein: ja aber das ist nur eine Wahrscheinlichkeit, oder? Das ist ja nicht sicher, das er die bekommt. Anonymzwei antwortet: nein nein, hier ist das anders. Es steht mehr oder weniger 100%ig fest, dass diese Krankheit ausbrechen wird und wahrscheinlich zu extremen gesundheitlichen Einschränkungen führen wird.

Ha!! Gefundenes Fressen für die Versicherungen. So einer stellt doch ein Hochsicherheitsrisiko terroristischen Ausmasses dar, oder nicht?

Aber eins ist schon klar, odr? Ein Stuhl, ein Tisch, ein Gebäude haben kein Bewusstsein, können nicht leiden, nicht sterben im Sinne eines leidensfähigen Lebewesens. Mit anderen Worten: "Die Gesellschaft", das sind wir. Du. Ich. Und sie, Frau Arztpraxissekretäterin. WIR machen unsere Gesellschaft lebenswert. Wir gestalten unsere Welt massgeblich mit. Oder eben nicht und agieren wie ein lebloses Zahnrad im "abstrakten System" das keines ist.

Es liegt an uns!

Apropos: die Grundidee der Versicherung ist folgende: Ganz viele geben ein klein wenig um diejenigen, die erfahrungsgemäss durch die Maschen der Gesellschaft fallen aufzufangen. Und dies aus dem Bewusstsein heraus, dass es jeden von uns jederzeit überall treffen könnte.

Diese Grundidee ist nicht etwa schlecht. Wenn sie denn so umgesetzt würde. Sie ist sogar nach wie vor revolutionär saugut.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen – und das ist jetzt kein Witz sondern mein Todernst – dass die Frau oder der Mann, der in der Studie identifiziert wurde als genetisch veranlagt zu einer möglicherweise tödlichen und mit Sicherheit ausbrechenden Krankheit, einen wundervollen, schmerzfreien, lebenswerten Abend erleben darf. Uneingeschränkt. Frei. Geliebt.



Grrrr, Montag nüchtern? Ehrlich, no joke? Ich hasse das, nüchtern den Tag beginnen zu müssen aber ey, was tut man nicht alles… ;) ;) :)

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